Der Coronavirus: Bierernstes Problem mit Influenza-Qualität

Bis zu 31.000 Nukleotide, die aus Base-, Zucker- und Phosphatmolekülen gebildet werden, geben dem Coronavirus seine schwer zu entschlüsselnde Haarnadelstruktur. Der Erreger mit offenbarem Ursprung im chinesischen Wuhan kostete bei Veröffentlichung dieses Texts bereits mindestens 170 Menschen das Leben, ist offenbar in unserer Siegerländer Betriebsheimat angekommen und stellt das institutionelle Gesundheitswesen auf der ganzen Welt vor die Mammutaufgabe, eine mögliche Pandemie abzuwehren – oder sie wenigstens einzudämmen.

Klingt besorgniserregend? Das tut es, wenngleich auch mit herbem Nebengeschmack: Denn das Markenprofil eines bis dato weitgehend unbekannten Tech-Unternehmens, dessen KI Prognosen zur Verbreitung von Krankheiten anstellt, bekommt nun glorreichen Aufwind. Was ironisch ist. BlueDot, von einem kanadischen Forscherteam um Dr. Kamran Khan entwickelt, kann zwar gezielt den voraussichtlichen Weg einzelner Infektionskrankheiten prognostizieren, seinen urplötzlichen Awareness Boost hat das Business aus Toronto allerdings nicht kommen sehen – was im Umkehrschluss interessante, ungleich traurige Erkenntnisse über bestimmte Automatismen in der Markenprofilierung und dessen Wahrnehmung gibt.

Von der Bibel bis Big Data: Wer rettet die Welt?

Oftmals das Marketing. Im Fall des Coronavirus hat nämlich erst das institutionelle Zögern – hierzu später mehr – die Künstliche Intelligenz von BlueDot ins Gespräch gebracht, nicht etwa die vom Unternehmen entwickelte Technologie. Wie immer gilt auch hier: Erst wo Bedarf entsteht, entsteht auch ein Bedürfnis. Das liegt daran, dass schlummernde Marketingpotentiale manchmal bloß dann initiiert werden, wenn man dem betreffenden Produkt, manchmal sogar dem gesamten Werteprofil heilbringende Eigenschaften beimisst. Bei ähnlicher Betrachtung verhält es sich so auch beim Klimawandel.

Ob nun das Schmelzen der Gletscher oder das Steigen des Meeresspiegels, der verheerende Kohlenstoffdioxid-Ausstoß oder die Tonnen Abfall, die in unseren Ozeanen umher schaukeln – all das war weithin bekannt. Was fehlte? Offenbar auch ein Gesicht, das der mithin als habgierig verklärten Fratze des Turbokapitalismus eine rigoros geführte und zu gleichen Teilen mutige Agenda entgegensetzt. So wurde Greta Thunberg bereits als Fünfzehnjährige zur Anführerin der bisher größten Jugendrebellion im neuen Jahrtausend hochstilisiert. Vergessen wir dabei nicht, dass Katastrophen seit jeher guten Dienst leisten, wenn es um Personal-Branding-Kampagnen einzelner Notretter geht.

Streng genommen geht dieses Narrativ bis ins Alte Testament zurück, auch wenn die Sintflut in dieser Geschichte von Gottes Hand geführt wird. Ob die BlueDot-KI also mit Noahs Arche vergleichbar ist? Möglich. Wichtiger ist jedoch die Erkenntnis, dass KI eine grundsätzlich höhere Anerkennung zuteil werden muss. Ob Epidemiologen deshalb um ihren Job bangen müssen? Das wiederum ist eine Fabel – genau wie die Kapitel 6 bis 9 der biblischen Genesis.   

Weshalb KI nicht länger für „Kein Interesse“ stehen sollte

Geben wir zu, dass die Coronavirus-Verbreitung eine solche ist, auf deren – zum jetzigen Zeitpunkt noch kontrollierbar erscheinenden – Auswüchse sehr viel zeitiger hätte reagiert werden können. Gegebenenfalls sogar müssen, hätte man dem BlueDot-Algorithmus konsequenteres Vertrauen geschenkt. Auch Nationen wie Deutschland – wenngleich es hier um keinerlei Schuldzuweisungen geht – degradieren sich zu einem der zahlreichen KI-Statisten, in denen einzelne Überzeugungstäter regelrecht um Fördergelder betteln müssen, während China und die USA schon längst ihre Kapitalmärkte auf maschinelle Lernprozesse ausgerichtet haben. Woran das außerdem liegt? Mitunter an der Angst vor Künstlicher Intelligenz als arbeits- und alltagsvernichtendem Schädling, dessen algorithmische Genauigkeit uns Menschen in vielerlei Hinsicht überflüssig machen könnte.

Doch KI hat weitaus mehr mit uns zu tun als mit Science-Fiction. Was auch den Schluss zulässt: Es sind mit hoher Wahrscheinlichkeit die narzisstischen Kränkungen handlungsbevollmächtigter Instanzen, die beim ersten Hinweis auf die mögliche Coronavirus-Verbreitung vorzogen, die eigene In-House-Expertise einzuschalten, anstatt einem Algorithmus zu glauben.

Dabei ist weithin bekannt, dass KI sehr wohl für „bessere und günstigere Prozesse, effizientere Ergebnisse, geringere Personal- und Betriebskosten und bestenfalls sogar für Innovationssprünge in der gesamten Wertschöpfungskette“ sorgen kann. Nebenher gilt das fürs produzierende Gewerbe fast noch mehr als für den Medizin-Sektor.

KI zulassen: Kontrolle ist gut, Vertrauen ist besser

So hartnäckig das gesellschaftliche Misstrauen gegenüber KI auch ist – die Ausbreitung des Coronavirus wurde bereits am 31. Dezember vorausgeahnt, ehe die US-Zentren für Seuchenkontrolle sechs Tage, die Weltgesundheitsorganisation sogar erst neun Tage später flächendeckend darüber informierten.

Trotz aller Zeit, die natürlich in Anspruch genommen werden sollte, um eine solche Ausnahmesituation ausreichend zu bewerten, steht jedoch auch hierbei außer Frage, dass es kein Roboter war, der die Warnung herausgab, sondern approbierte Epidemiologen und hochrangige Forscher, die sich nach Auswertung eigens erstellter Parameter der bevorstehenden Verbreitung des Coronavirus sicher waren. Ziemlich sicher, um genau zu sein.

Daher ist es ausgesprochen irrgläubig, dass ein Gehirn mit faktisch nunmal beschränkten Mustererkennungskompetenzen den Endpunkt einer vielleicht doch allumfassenderen Entwicklung darstellen soll. Medizinische Innovationen, die sich auf KI stützen, werden auch deshalb von immer größerer Bedeutung, weil der Mensch tatkräftige Unterstützung benötigt, um all die Krankheiten in den Griff zu bekommen, die er im Laufe von Jahrhunderten und Jahrzehnten selbst auf die Wege gebracht hat. Man denke da aktuell nur an den Einsatz von KI bei der Diagnostik und Prävention von Gebärmutterhals- oder Lungenkrebs.

BlueDot gelang in jedem Fall, was vielen Epidemiologie-Studierenden bereits in den Einführungskursen an der Uni veritables Kopfzerbrechen bereitet: Strukturen entschlüsseln, Muster registrieren, Schlussfolgerungen zulassen. Hierbei geht es weniger um die breit gefächerte Basenstruktur des Virus selbst als vielmehr um einen gigantischen Datensatz, der auf Grundlage natürlicher Sprachverarbeitung und Machine Learning unzählige Informationen aus Krankheitsreporten, weltweiten News, Foren- und Blogbeiträgen sowie Flugberichten sämtlicher Airlines genaueste Prognosen über die geografische Streuung von Krankheiten anstellt.

Bloße Daten können in diesem Zusammenhang also um ein Vielfaches wertvoller sein als etwa Penicillin, Nasenspray oder eine Chemotherapie. Warum also nicht von Informationen Gebrauch machen, die sich noch schneller vermehren, als das ein Virus wie der Wuhan-Erreger je könnte?