KI für den Mittelstand? Über Verlustangst und Vorfreude im produzierenden Gewerbe – eine Bestandsaufnahme aus Sicht des Marketings.

Von Trends spricht man gemeinhin, wenn etwas medial in aller Munde, aber in der individuellen Realität noch nicht richtig greifbar ist. Für viele Unternehmen der mittelständischen Industrie war beispielsweise das Internet Mitte der Neunzigerjahre ein Trend – Computer waren zwar geläufig, aber man wusste schlichtweg nicht, was das jetzt mit den E-Mails, Websites und überhaupt der ganzen Vernetzung sollte. Gerade im Business-To-Business konnte sich kaum jemand vorstellen, dass die von Handschlagsmentalität, Konferenzraumkaffee und Vertriebsterminen geprägten Geschäftsprozesse der Unternehmen irgendwann mal online ablaufen würden. Was heute normal ist, war damals ausgeschlossen.

Ähnlich fühlt sich gegenwärtig die Digitalisierung an. Und noch viel mehr das, was sie an Ausgeburten mit sich bringt. Künstliche Intelligenz zum Beispiel, von der aus politischen Kreisen behauptet wird, dass sie die nächste große Sprunginnovation unserer Wirtschaft sein könnte – aber nach was eigentlich? Die Frage nach dem letzten großen deutschen technologischen Meilenstein mal außen vor gelassen: Fühlt sich das Thema KI 2020 im Mittelstand nicht genau so an wie das Internet 1995? Sind wir nicht wieder an so einem Punkt, wo sich der in der Gesellschaft breit machende Fortschritt die Gegenwart der mittelständischen Industrie ein- und überholt?

Das Marketing ist manchmal weiter als die Industrie

De Facto ist KI – in rudimentären Ansätzen – bereits überall da zu finden, wo Marketing Entwicklung treibt. Ob Google-Suche, Netflix-Empfehlung, medizinische Selbst-Diagnose-App, Zielgruppen-Insights im Online-Targeting oder selbstlernender Sprach-Assistent im heimischen Wohnzimmer: Überall da, wo Menschen aktiv oder passiv Daten generieren, kommt irgendwie, irgendwo, irgendwann eine KI zum Einsatz, die aus diesen Daten Werte schöpft, sie verfeinert und für den Absatz nutzbar macht. Das fühlt sich in der Realität mitunter schlauer an, als es manchmal tatsächlich ist. Aber es zeigt zumindest: Wenn das Smartphone bei kleineren Wehwehchen mittlerweile den Hausarzt ersetzt und Alexa durchaus den Unterschied zwischen den Stimmen der Hausbewohner ausmachen kann, dann ist KI nicht mehr nur ein feuchter akademischer Traum, sondern bereits konsumgesellschaftlicher Big-Data-Alltag.

Im B2B-Mittelstand ist von dieser Gegenwärtigkeit jedoch kaum etwas zu spüren. Zumindest könnte man das meinen, wenn man sich umhört, mit Unternehmern spricht und einfach mal die unausgesprochenen Perspektiven abklopft. Gut, gleiches gilt mitunter für das Thema Digitalisierung an sich und noch viel mehr für strategisches Marketing. Man muss jedoch berücksichtigen, dass viele Branchen in diesem Segment einer Pfadabhängigkeit unterliegen. Wer Stanzteile herstellt, Kunststoff galvanisiert, mit Stahl handelt oder Rohre biegt, wird einerseits kaum den Übertrag zu digitalen Sprachassistenten machen und ist andererseits in den seltensten Fällen schon so weit, dass er Marketing gleichberechtigt zum Vertrieb sieht. Vertrieb ist Verkauf, Marketing ist Werbung – dass im Zusammenspiel beider Disziplinen Daten entstehen, die automatisiert ausgewertet und als logische Schlussfolgerung für Absatz- und Umsatz ausgewertet werden könnten, ist einfach noch zu weit weg. Obwohl man attestieren muss: Ähnlich wie damals mit dem Internet sind es wahrscheinlich die Agenturen, die solche Ideen über kurz oder lang in den Mittelstand tragen – sofern sie denn selbst thematisch am Ball bleiben.

Wo KI unsere Jobs zurecht killt

Und dann ist noch die andere Ausprägung von KI, die „arbeitsplatzvernichtende“, um hier mal einen unserer Kunden zu zitieren. Gefühlt ist sie einer der Gründe, warum man der Digitalisierung dann doch kritischer gegenübersteht, als man eigentlich zugeben möchte. Sie wird gerne verteufelt: Die Art von KI und Automatisierung, die über kurz oder lang alles überflüssig macht. Dabei macht sie eigentlich nur das überflüssig, was bisher mit sich wiederholenden (und oft ermüdenden) Vorgängen zusammenhängt, wenig Kreativität voraussetzt und das menschliche Gehirn entweder unter- oder überfordert. Es sind keine Jobs, denen man nachweint. Und doch herrscht da Angst, etwas Schlimmes zu riskieren, wenn man KI zulässt.

Dass schlaue Automatisierung und KI nicht nur vermeintlich stupide Vorgänge wie das Bedienen einer Maschine, sondern ganze Qualitätskontrollvorgänge ersetzen können, ist allerdings längst keine Dystopie mehr – Praxis-Beispiele können Sie jederzeit googlen. Ob man also in Zukunft noch Menschen braucht, die immer größer werdende Datensätze nach Fehlern durchforsten und dabei selbst immer fehleranfälliger werden, die Arbeitsschritte per Hand dokumentieren müssen und dabei immer frustrierter werden, weil Routine nun mal Frust gebiert, oder die unter gesundheitsgefährdenden Bedingungen immer wieder den einen Knopf drücken, damit eine Galvanik-Anlage das macht, was eine Galvanik-Anlage nun mal macht. Ob Menschen diese Arbeit in ein paar Jahren noch verrichten werden, ist eigentlich keine Frage von Ethik und Gewissen. Und wenn sie es nicht mehr tun, ist das auch keine Dystopie – sondern aus der richtigen Perspektive betrachtet ein Fortschritt.

KI muss sich nicht die Hände waschen

Lassen wir die technologische Evolution mal außen vor: Die mittelständische Industrie hat neben der Digitalisierung noch das andere Schreckgespenst zu verkraften. Den demographischen und gesellschaftlichen Wandel sowie den damit einhergehenden Fachkräftemangel. Niemand will mehr „Fabrikarbeiter“ werden. Und selbst wenn gewerbliche Jobs durch New-Work-Ansätze und handfeste Anreize attraktiver gemacht werden, will doch kaum jemand mehr in Berufen anfangen, die einerseits durch Taylorismus und ständigen Optimierungs- und Effizienzwahn kostenseitig so weit untergerechnet wurden, dass sie ideell keinen Wert mehr haben, andererseits durch die Digitalisierung kaum noch Zukunftsperspektive bieten. Denn wer will schon die CNC-Fräse bedienen, wenn doch alles darüber sinniert, dass die Maschine sich selbst bedienen könnte und der Mensch, der der Maschine Intelligenz einhackt eigentlich wichtiger ist und deshalb mehr umworben werden muss, als der, der die Maschine bedient?

Man blicke da nur mal auf unsere Agenturheimat Siegen, die in der durchweg produzierenden Region Südwestfalen mit knapp 150 Weltmarktführern voll und ganz auf Digitalisierung setzt und Unsummen in einen neuen Forschungs- und Entwicklungsstandort investiert, um (nicht nur) der heimischen Industrie die KI mit geballter Wirtschaftskraft einzuhämmern – was per se gut ist. Aber was bedeutet das langfristig für die 47 % an Beschäftigten im produzierenden Gewerbe der Region? Ist das als Prophezeiung zu verstehen, weil niemand mehr in den Fertigungshallen der Provinz arbeiten will? Oder wird man dementsprechend auf Umschulung und neue Bildungsangebote setzen und die Menschen einmal durchdigitalisieren, damit sie dem Kollegen KI unbesorgt den Platz frei räumen und irgendwas drum herum machen können? Und wenn jetzt schon so viel gemacht wird, um die Digitalisierung in die Unternehmen zu treiben – wer treibt sie eigentlich in die Unternehmen? Bräuchte man nicht sogar dafür eine KI?

Bestandsverwaltung hat keine Zukunft

Für die Unternehmen im Mittelstand kann das Thema KI einerseits nur gut sein, sorgt es doch für bessere und günstigere Prozesse, effizientere Ergebnisse, geringere Personal- und Betriebskosten und bestenfalls sogar für Innovationssprünge in der gesamten Wertschöpfungskette – Dinge, die man seit Jahrzehnten will, jedoch nie erreicht, weil sie am Menschen und seinen Gewohnheiten scheitern. Und gerade weil es um Menschen geht, wäre KI sogar eine Möglichkeit, den Fachkräftemangel ad acta zu legen. Dass soviel Gutes jedoch nicht ohne Schmerzen kommt, ist andererseits sicherlich einer der Gründe, warum man in Sachen Digitalisierung, Automatisierung und KI noch so zögerlich mit den Ideen und Möglichkeiten umgeht: Schlimmstenfalls bleibt das, was den industriellen Mittelstand traditionsgemäß ausmacht – der Mensch, der die Ärmel hochkrempelt, gerne anpackt und sich die Hände schmutzig macht – auf der Strecke. Und leider ist es so, dass in vielen Unternehmen Zukunft bedeutet, das Alte zu bewahren. Bestandsverwaltung mit Innovation. Aber ist das die Zukunft für den Mittelstand?

Eine alte chinesische Weisheit besagt, dass Dinge wahrzunehmen der Keim aller Intelligenz ist. Die Frage ist, ob wir im Mittelstand Intelligent genug sind, um wahrzunehmen, welche Art von Arbeit noch Zukunft für uns und die Welt um uns herum hat. Wenn wir Arbeit nicht nur aus der Perspektive des Bewahrers und Verwalters betrachten, sondern die Möglichkeiten und Potenziale sehen, sehen wir wahrscheinlich auch die Zukunft mit Digitalisierung und KI in einem anderen Licht. Ob wir ähnlich wie beim Internet so lange warten, bis die Welt (und die Märkte) um uns herum wieder weiter sind als wir, ist allerdings die weitaus dringlichere Frage.